Therapie mit Wumms. Und Sinn. – Vestibuläre und propriozeptive Unterempfindlichkeit
Björn, 5, lässt es gerne krachen. Er tobt, rennt, hüpft, kraxelt und brüllt für sein Leben gern. Ruhig zu bleiben fällt ihm schwer. In unserer SI-Therapie lernt Björn sich zu konzentrieren. Und sich zu spüren.
Bei motorisch ruhigen, eher kognitiven Aufgaben flitzt Björn zwischendurch wie von der Tarantel gestochen die Rutsche hinauf, rennt wieder hinunter, springt im letzten Moment ab und landet mit einem lauten Knall auf dem Boden – manchmal gekonnt auf den Füßen, aber oft schießt er auch übers Ziel hinaus und stürzt. Das Schwierige an der Situation: Selbst wenn er sich verletzt, tut er sich aufgrund seiner Unterempfindlichkeit selten weh. Darum schulen wir mit speziellen Übungen die Wahrnehmung der Reize.
Für eine Weile eine Position zu halten, ist für Björn kaum möglich. Schnell sagt er dann: „Mir ist langweilig“ oder: „Ich bin müde“. Das ist Björns Art, seine Anstrengung zu verbalisieren. Wenn ihm etwas nicht sofort gelingt, behauptet er, er könne es eben nicht. Dann klettert er lieber nochmal die Sprossenwand hinauf und springt …
Wahrscheinlich wird Björn später mal Stuntman oder Extremsportler. Er hat keine Angst vor Höhe oder Geschwindigkeit und seine Bewegungen wirken harmonisch – wäre alles nur nicht mit so viel Getöse verbunden. Björns Gehirn verarbeitet Informationen anders als andere Gehirne. Man spricht von Über- und Unterempfindlichkeiten für die bestimmten Wahrnehmungsbereiche. Bei Björn handelt es sich um eine propriozeptive und vestibuläre Unterempfindlichkeit. Er braucht sehr deutliche und starke sensorische Informationen, um seinen Körper und dessen Grenzen zu spüren.
Erst wenn die Schaukel schon senkrecht steht, meldet das Gehirn, dass er das Gleichgewicht verlieren könnte. Und dann ist es eben manchmal schon zu spät. Das Gehirn erkennt die Notwendigkeit nicht und sendet keine entsprechenden Befehle an die Muskeln. Die Reaktion zum Gegensteuern bleibt aus. Es muss erst scheppern, bevor Björn merkt, dass da schon die Wand war. Gepaart mit seiner propriozeptiven Unterempfindlichkeit sorgt dies dafür, dass er sich nicht einmal weh tut. Daher kann er die Konsequenzen eines für uns „riskanten“ Verhaltens im Vorweg nicht abschätzen. Unser Ziel ist es, Björn sensibler für Gefahren zu machen und ihm zu helfen, seine Kräfte besser zu dosieren. Kinder wie er haben es im sozialen Umfeld meist nicht leicht, weil sie manchmal andere Kinder anrempeln und irgendwie alles „zu doll“ machen, ohne es zu merken. Zudem müssen sie immer in Bewegung sein. Sind diese Bewegungen zu langsam oder zu wenig, verliert der Körper die benötigte Muskelspannung, das Gehirn fährt herunter. Man kann sich ausmalen, wie schwer es in der Schule wird, wenn Björn 45 Minuten still sitzen soll. Das ist momentan eigentlich undenkbar. Er wird dann wahrscheinlich ständig den Unterricht stören und für ein Verhalten gerügt werden, für das er eigentlich gar nichts kann. Denn sein Körper schreit geradezu nach sensorischen Informationen, die er braucht, um seine Körperspannung aufrecht zu halten und um sich zu spüren.
In der Therapie braucht Björn eine enge Führung. Nur so kann er sich den Herausforderungen stellen, die ihm schwer fallen: zum Beispiel rückwärts balancieren (weil man da nicht rennen kann), voltigieren auf einer hängenden Rolle, Schubkarre laufen oder Seilspringen. Diese Übungen verschaffen Erfolgserlebnisse und steigern die Frustrationstoleranz. Björn bekommt dadurch ein besseres Gefühl für seinen Körper. Dazu gehört zum Beispiel auch, unter einem Haufen großer Sitzsäcke begraben zu werden oder zwischen zwei großen Matten wie die Wurst in einem Hotdog zu verschwinden. Diese Momente genießt Björn sehr. Endlich spürt er seinen Körper. Und dessen Grenzen.