Gehen, sprechen, essen – alles, was uns leicht fällt, fällt dem zweijährigen Cem schwer. Diese Auffälligkeiten gibt es schon länger, und zudem sah Cem von seiner Geburt an etwas anders aus. Nun gibt es eine Diagnose – sie ist noch unspezifisch, aber immerhin hat sie einen Namen: Syndrom.
Ein „Syndrom“ ist eine Kombination von verschiedenen Krankheitszeichen (Symptomen). Die Bezeichnung Syndrom ist nur ein Beschreibung, ein Name für eine Erkrankung, deren Ursache nicht immer geklärt werden kann. Auf Anraten der Ärzte wenden sich Cems Eltern an uns. Mit Cem soll physiotherapeutisch gearbeitet werden – an seinem sehr unsicheren Gang, der niedrigen Körperspannung, der fehlenden Sprache und den Essproblemen. Cems Eltern können sich unter der Physiotherapie für ihren Sohn noch nicht viel vorstellen. Beim ersten Treffen stehen den Eltern Ratlosigkeit und auch ein wenig Skepsis ins Gesicht geschrieben. Cem selbst wirkt munter und erkundet auf dem Arm des Vaters neugierig die fremde Umgebung.
Wie fangen wir an? Zunächst lernen sich Familie und Therapeutin kennen. In einer ruhigen, kindgerechten Atmosphäre stellen sich beide Seiten mit ihrem Anliegen vor. Die Therapeutin erhält nebenbei schon einen ersten Eindruck von Cem, der noch gar nicht im Fokus steht, sondern sich im Therapieraum umsehen und alles ausprobieren darf. Vorsichtige und respektvolle Annäherung bestimmt die erste Therapieeinheit.
Allmählich entspannen sich Eltern und Kind und es entwickelt sich ein Gespräch, in dem die Eltern ihre Geschichte mit Cem erzählen. Die Therapeutin fragt: Wann und von wem wurde erstmals eine Auffälligkeit beobachtet? Fällt den Eltern etwas auf an ihrem Kind? Sind sie glücklich mit Cem oder gibt es Nöte, Sorgen, Wünsche? Soll in ihren Augen etwas besser werden bei ihrem Sohn? Oder kommen sie nur, weil der Arzt sie schickt? Welchen Wunsch haben sie an die Therapeutin? Welches Ziel soll vereinbart werden, kurzfristig oder auch langfristig? Während des Gesprächs beobachtet die Physiotherapeutin den kleinen Cem in seinem Verhalten, seinem Spiel, seine Motorik, die Kommunikation mit seinen Eltern und mit ihr, der noch fremden Person.
Die genannten Bereiche gehören alle zu unserer Arbeit mit Kindern: Den Menschen als Einheit in seiner geistigen, seelischen und körperlichen Entwicklung zu sehen, ist eine Kernaussage in der Bobath-Therapie. Alle beschriebenen Teilbereiche sind in der kindlichen Entwicklung untrennbar miteinander verbunden und das berücksichtigen wir in der Therapie. Ruhig und unaufgeregt verschafft sich die Physiotherapeutin nun einen differenzierten Eindruck von Cem. In Gegenwart seiner Eltern fühlt er sich sicher und kann sich auf eine direkte Interaktion mit der Therapeutin einlassen. Nach der Befunderhebung erklärt sie den Eltern die Ergebnisse und die sich daraus ableitenden Ziele für die Therapie. Sie erläutert das Vorgehen für den gemeinsamen zukünftigen Therapieweg, auf dem die Eltern als Co-Therapeuten angeleitet und mitgenommen werden.
In der nächsten Therapieeinheit geht es dann schon richtig zu Sache. Cem erkundet neugierig den speziell für ihn vorbereiteten Therapieraum und experimentiert mit Spielzeug und Geräten. Die Therapeutin macht nicht viele Worte, sie gibt keine konkreten Anweisungen. Stattdessen schafft sie einen Rahmen, in dem Cem ganz selbstverständlich zu agieren beginnt, aus der eigenen Motivation heraus. Die Raumgestaltung soll ihn an seine motorische Leistungsgrenze führen und an genau dieser soll er dann mit großer Lust arbeiten. Das Können des Kindes in den Vordergrund zu stellen und von dieser Stufe aus weiterzuarbeiten, ist zentrales Anliegen im Bobath-Konzept. Die Therapeutin hat den Boden uneben gestaltet und in der Mitte des Raumes hängt eine knallrote, große Tellerschaukel, vollgepackt mit bunten Bällen. Sofort möchte Cem zur Schaukel. Dafür muss er einige Hindernisse in Form von dicken Polstern und Säcken überwinden. Das kann er unmöglich im aufrechten Gang schaffen, also lässt Cem sich auf alle Viere fallen und krabbelt – das ist schon ein erstes Training für den Rumpf, und Rumpfstabilität braucht Cem für ein sicheres Gehen auf zwei Beinen. In der Mitte angekommen, widmet er sich dem Wegräumen der Bälle. Ausdauernd arbeitet er Ball für Ball beiseite, immer wieder seine Positionen verändernd, von der Krabbelposition in den Kniestand, um beide Hände für den Ball frei zu haben und wieder zurück. Zwischendurch plumpst er zur Seite, muss sich erneut aufrichten und positionieren. Solange die Aufgabe spannend ist, bleibt er dabei. Bei dieser Tätigkeit absolviert Cem aus eigener Motivation unzählige Positions-wechsel, Muskelkontraktionen, Koordinations- und Gleichgewichtsübungen. Dann hat er es endlich geschafft: Die Schaukel ist freigeräumt.
Er stellt sich der nächsten Herausforderung: Rauf da! Mehrere Versuche scheitern, es fehlt ihm die rechte Idee zur Bewegungsabfolge. Cem ärgert sich und meckert. Erst jetzt schaltet sich die Therapeutin ein und bietet ihre Hilfe an. Dazu macht sie eine Gebärde mit ihren Händen, die für „Hilfe“ steht. Diese wird sie fortan immer benutzen, damit Cem lernt, wie er um Hilfe bitten kann. Gesten und Gebärden können für ein Kind eine erste Kommunikation darstellen, wenn die richtigen Worte noch nicht kommen wollen. Die Therapeutin zeigt Cem einen möglichen Weg auf die Schaukel, indem sie seinen Körper mit ihren Händen führt. Aber sie hilft nur so wenig wie nötig. Eine Bewegung wird nicht dadurch erlernt, indem man sagt, wie es geht, sondern durch das Bewegungsempfinden selbst. Und dann sitzt Cem auf der großen Schaukel und sieht sehr stolz aus: Was für ein arbeitsreicher Weg bis hierhin! Er fühlt, was er geleistet hat. Beim folgenden fröhlichen Schaukeln trainiert er ganz nebenbei wieder Gleichgewicht und Rumpfstabilität. Dann will Cem die Schaukel wieder verlassen und krabbelt fast ohne Hilfe hinunter, kurz sucht er den Blick der Mutter, als wolle er fragen: Hast du das gesehen?
Viele Male wiederholen sich nun die Bewegungsabläufe. Rauf auf die Schaukel, runter von der Schaukel. Motorisches Lernen findet statt. Cem automatisiert die Bewegungsabläufe, die er von nun an bei Bedarf abrufen kann. Das ist das Ziel der Bobath-Therapie: Die bestmögliche Förderung der Entwicklungs- und Lernprozesse, um eine größtmögliche Selbstständigkeit und Mitbestimmung für das Kind zu erreichen. Schließlich verlassen Cem und seine Eltern die Praxis mit neuen Bewegungsimpulsen und Ideen. Zu Hause werden sie mit dem Training fortfahren. Auch wenn dort keine Schaukel von der Decke hängt, können sie doch der Wohnzimmerboden ohne großen Aufwand durch Sofakissen und Decken in eine aufregende, herausfordernde und unebene Spielwiese verwandeln, in der Cem zwischen Spaß und Herausforderung seine Grenzen immer wieder neu ausloten kann.